Kron Der Himmel ist noch nicht dunkel, aber die Straßenlaternen brennen schon; es ist, als ob es oben Tag wäre und unten Nacht, wie auf einem Bild von Magritte. Es ist Spätsommer. Kron sitzt am offenem Fenster und ordnet den Sommer in eine Pappschachtel, getrocknete Blumen, Tagebuchnotizen, Quittungen, Eintrittskarten, ein abgerissenes Plakat. Kron glaubt, daß ihm die Zeit verloren geht, die er nicht dokumentiert. Im Lauf der Jahre haben sich viele Schachteln angesammelt, drei Schachteln pro Jahr, ordentlich aufgestapelt und beschriftet. Kron ist nicht mehr jung, und er wird jedes Jahr drei Schachteln älter. Kron bewahrt seine eingeschachtelte Zeit im Speicher auf. Krons Speicher ist groß. In seinen Pappschachteln finden sich Reisesouvenirs, Erinnerungen an vergangene Liebschaften, Aufzeichnungen seiner Abenteuer. Kron hat nicht viele Reisen gemacht, nur wenige Liebschaften gehabt und kaum Abenteuer erlebt. Manchmal fragt sich Kron, wohin sein Leben verschwunden ist. Aber daß er es gelebt hat, beweisen die Pappschachteln.
Wenn sie einmal eingeräumt sind, sieht Kron die Schachteln nie wieder an.
Eva Eva hebt nichts auf. Sie führt auch kein Tagebuch. Sie hätte auch nichts aufzuschreiben, denn ihr Leben besteht im wesentlichen aus ihrem Mann, dem sie immer eine gute Frau war, sie hat ihn nie betrogen in all den Jahren ihrer Ehe, und gekocht hat sie auch gut. Eva hat ihrem Mann immer alle Wünsche von den Augen abgelesen und sich rührend um ihn gekümmert, wenn es ihm nicht gut ging, und es ging ihm oft nicht gut, er hatte es am Herzen. Als das Herz eines Tages vollkommen aufgehört hat zu schlagen, ist Eva gar nicht so richtig mitgekommen. Sie liest ihm immer noch vor und hält seine Hand, zumindest denkt Eva das.
Im Moment kommt Eva gerade mit einem Tablett zu ihrem Mann ins Wohnzimmer. Auf dem Tablett sind eine frische Kanne Tee, Milch, Zucker und eine Packung Kekse. Später werden sie zusammen fernsehen. Eva führt kein Tagebuch, denn sie braucht die Vergangenheit nicht, sie ist glücklich im Hier und Jetzt. Eva braucht die Vergangenheit nicht, denn die Vergangenheit ist jeden Tag um sie herum.
Schulte Schultes Theorie ist diese: Wenn das Universum das Ende seiner Ausdehnung erreicht hat, dreht sich die Zeit um, und alles läuft noch einmal genau so ab, wie es ursprünglich passiert ist, nur rückwärts. Die Welt steigt aus ihrer eigenen Asche wieder auf, Menschen erscheinen im Tode, gehen die Schritte ihres Lebens zurück und verschwinden in ihrer Geburt, Reiche fallen, bevor sie aufsteigen. Sobald das Universum zu einem kleinen Punkt unendlicher Dichte zusammengeschrumpft ist, kehrt sich die Zeit erneut um, das Universum expandiert von neuem, und alles ereignet sich wieder in der ursprünglichen Reihenfolge. Alles, was geschieht, ist also bereits geschehen und wiederholt sich lediglich in Ewigkeit, einmal vorwärts, einmal rückwärts.
Schulte folgert daraus zu Recht, daß es keine Freiheit gibt. Man kann nichts tun, was nicht bereits seit jeher getan worden wäre. Schulte gibt sich daher keine besondere Mühe mit nichts, er geht kaum außer Haus, bewegt sich ohnehin wenig. Seine Tage verbringt Schulte in der Hauptsache damit, auf das Ende zu warten. Manchmal legt Schulte allerdings Patiencen; wenn sie nicht aufzugehen drohen, erfindet er ad hoc neue Regeln, damit er doch noch gewinnen kann.