Empfangen in Liebe und in Schweiß, geboren aus Blut und Schleim: mein Sohn. Wenn es den Arzt und die Hebammen amüsiert, wie ich aus dem Häuschen gerate wegen einer Handvoll runzeligem, schmierigen Fleisch, sind sie diskret genug, das nicht zu zeigen. Aber wahrscheinlich schleift sich der komische Effekt über die Jahre sowieso ab. Weißkittel sieht so etwas täglich mehrfach. Ich nicht; ich weiß, daß aus diesem zappelnden, verklebten Etwas ein Mensch wird.
Sohn – du wirst sehen, und du wirst fühlen.
Ich erinnere mich an eine Wiese, voll mit Löwenzahn bis zum Horizont. Minus sechsundzwanzig Jahre.
Ich erinnere mich an eine endlose Straße im Sommer; kein Mensch zu sehen, und mein Eis tropft. Minus fünfundzwanzig Jahre, oder mehr?
Ich erinnere mich an Neonlicht, und draußen ist Herbst. Minus vierundzwanzig Jahre.
Ich erinnere mich an eine Waldlichtung bei Regen, an Gummistiefel, Moos und an glänzende Steine.
Versprengte Scherben. Nimm Glas und laß es aus großer Höhe auf einen Steinboden fallen, und dann versuche, alle Stücke wiederzufinden. Ich kann es nicht, aber ich hoffe, du wirst es für mich können.
Auf dem Weg zurück vom Krankenhaus bin ich so erschöpft, daß ich für einen Moment den Eindruck habe, meine Hand wäre an der Gangschaltung festgewachsen. Ich komme nur heil nach Hause, weil kaum mehr Verkehr auf den Straßen ist.
Montag.
Der Dackel zerrt an der Leine wie verrückt; die Schnauze fegt in einem irrwitzigen Zickzack über den Bürgersteig. Ich wünschte, für mich wären diese Spaziergänge so aufregend wie für ihn. Als wir den Waldrand erreichen und ich die Leine löse, wird mein Wunsch wahr.
da da dieser geruch das ist ER wo ist ER ist ER noch in der nähe nein ich bin in sicherheit für den augenblick GANZ RUHIG was ist das für ein geräusch dort unter der erde hier hat es mäuse ich kann sie riechen ich kann sie hören ihnen nach durch das gras durch den schlamm durch die zweige WAS IST DAS FÜR EIN TIER zu klein interessiert mich nicht ich will die maus laufen laufen
Ich fliege über den Waldboden, in wenigen Zentimetern Höhe. Meine Sicht ist verzerrt, und ich sehe Farben, von denen ich nie gewußt habe, daß es sie gibt. Etwas schlägt mir mit solcher Wucht ins Gesicht, daß mir schwarz vor den Augen wird. Sekundenbruchteile später finde ich mich auf der Straße wieder, zehn Meter vom Wald entfernt.
Wie um alles in der Welt ...
Ich gehe zurück zum Wald, um nach dem Hund zu sehen, aber der ist verschwunden. Etwa eine Stunde, nachdem ich zuhause angekommen bin, werde ich ohne jeden Grund unruhig, stehe vom Sofa auf und schaue vor das Haus. Das schmutzverkrustete Wesen, das gemächlich über die Straße in meine Richtung watschelt, ist mein Dackel. Es ist das erste Mal, daß mein Hund mir zuzwinkert.
Ich möchte nicht wirklich wissen, was das Tier gemacht hat.
Dienstag.
Die Anfälle werden häufiger. Das Büro habe ich bereits mittags fluchtartig verlassen, nachdem es mir nicht mehr möglich war, mich verständlich zu machen. Was ich sage, kommt mir klar vor; was die anderen hören, weiß ich nicht. Daß sie mich für wahnsinnig halten, kann ich allerdings aus ihren Reaktionen schließen. Im Gesichtsausdruck meiner Sekretärin lese ich blankes Entsetzen. Aber auch zuhause ist es nicht auszuhalten. Sowohl im Radio als auch im Fernsehen kommen ausschließlich ungarische Programme. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.
Oder mit der Welt? Was ist wahrscheinlicher?
Was mir am Fernsehprogramm wirklich Angst macht: Ich verstehe jedes Wort.
Ich muß raus.
In der Garage merke ich erst, daß ich gar keinen Autoschlüssel habe. Als ich ihn in der Diele suchen will, fehlt die Kommode. Ich entschließe mich, mit dem Fahrrad zu fahren und gehe in den Keller. Das Rad ist da, aber ich weiß nicht, wo ich bin.
Mittwoch.
Der Wecker klingelt, ich stehe auf und gehe ins Bad. Mein linker Arm und ein Stückchen von der Milz bleiben im Bett liegen. Nach dem Zähneputzen gehe ich nochmal zurück und hole sie; ich kann so nicht aus dem Haus.
Donnerstag. Vielleicht.
So ist es: Identität ist nur eine biologische Hilfskonstruktion, entstanden irgendwann im Lauf der Evolution als zusätzliches Werkzeug wie Fangzähne oder Klauen, um das Überleben zu sichern. Wohlgemerkt – nicht das Überleben des Einzelnen, denn der ist Fiktion. Es geht um das Überleben der Art, es geht um das Weiterkommen der Gene. Wir sind nur Vehikel für unsere Gene. Es gibt nichts außer der DNS, und alles andere ist ausgedacht. Ich habe meinen biologischen Zweck erfüllt; meine Gene sind wieder für eine Generation in Sicherheit.
Ich pflanze mich fort: ich löse mich auf.
Ich muß Monika sehen. Wenn mir jemand helfen kann, dann sie. Auf dem Weg durch die Krankenhausgänge habe ich Mühe, mit meinem Tempo Schritt zu halten. Ich weiß nicht, wie ich es schaffe, das Zimmer zu finden, aber ich finde es. Als ich hineinkomme, bin ich schon da, ansonsten ist der Raum leer.
Dienstag. Freitag. Mittwoch. Samstag. Montag?
Minus dreiundzwanzig. Ich erinnere mich.
Minus sechzehn, minus zwölf, minus sieben. Ich erinnere mich, also war ich.
Minus fünf, minus zwei, minus eins. Ich war. Ich – bin?
Minus null.
Die Wiese, die Blumen, das Moos und die Steine: Ich bin der Sommer, und ich bin der Wald, und ich bin der Regen.
Plus null.
Versuche nicht, die Scherben aufzusammeln – du mußt werden wie sie!
Ich bin du
bist er
ist wir
Sohn?
Plus eins.