Von den Masten wehte wieder Licht herüber. Er verstummte für einen Moment und sah nachdenklich auf. Es war warm; sie hatten das Verdeck geöffnet und saßen Hand in Hand im Wagen nahe der Straße.
"Ich ..." begann er wieder.
"Bitte", unterbrach sie ihn. "Nicht jetzt, nicht hier, nicht heute. Wir haben sowieso nicht mehr viel Zeit zusammen, und in den wenigen Augenblicken, in denen ich dich für mich habe, möchte ich nichts davon hören."
Sie merkte, wie er die Zähne zusammenbiß, um nichts zu sagen, und hoffte, daß er nicht wußte, daß sie es wußte. Sie tat so, als wäre nichts gewesen, und hielt seine Hand fester.
Der Wind wurde stärker; das Licht wehte jetzt in immer größeren Fetzen von den Masten fort. Es war beinahe hell, als sie ihn küßte, dann legte sich der Wind wieder.
"Es wäre ganz einfach. Ich kenne eine Schaltzentrale, wo praktisch nie jemand vorbeikommt ..." Sie seufzte leise. Es würde nichts helfen, so zu tun, als wäre immer noch alles in Ordnung. Ganz automatisch fing sie wieder an, mit ihm zu streiten, obwohl sie wußte, daß es sinnlos war, und sie haßte sich dafür.
"Man darf ihnen nicht einmal nahekommen! Es ist ..."
"Es ist verboten, es ist verboten. Wer sagt das eigentlich, daß es verboten ist? Wer?"
Sie schwieg. Sie selbst hielt sich von den Masten fern, wenn es nur irgend ging; zum einen fand sie sie – auch wenn sie das niemals vor jemandem zugeben würde – unheimlich und hatte Angst vor ihnen, zum anderen mochte sie die Dunkelheit.
Ganz anders als er.
Manchmal ging sie in den Wald zwischen der Straße, die nach Westen, und der Straße, die nach Südosten führte, einfach um in der Dunkelheit zu sein. Dort gab es eine Stelle, wo man die Masten überhaupt nicht sehen konnte, nur das unregelmäßige Flackern, das den Horizont dunkellila färbte; sie setzte sich dann in die warme Schwärze des Waldes und dachte nach, oder sie legte sich auf den Rücken in das Unterholz und starrte in die Finsternis, die der Himmel war.
"Sie halten das ganze Licht zurück, sie wollen alles behalten! Sollen wir auf ewig mit dem bißchen leben, was der Wind ihnen fortreißt? Stell dir vor, wenn sie endlich kaputt wären, dann könnten sie es nicht mehr festhalten, dann würde es hell! Hell, begreifst du das? Nicht nur so hell wie eine Kerze oder eine Petroleumlampe, sondern richtig hell, verstehst du? Wir könnten wieder sehen!"
"Es wird doch einen Grund haben ..." sagte sie leise. Jetzt war es an ihm zu schweigen.
"Ich bringe dich nach Hause", sagte er nach einer Weile und ließ den Motor an. Sie drehte den Kopf fort von ihm, damit er nicht sah, wie sie weinte, weinte, weil er die Dunkelheit entweiht hatte und ihre Stunde zu zweit und den ganzen Sommerabend.
Die Straße war wie mit dem Lineal gezogen, ein Band dunklen Graus, das sich über die sanften Hügel zog, vorbei an schwarzen Feldern und schweigenden Häusern, in denen kein Licht brannte. In der Einfahrt zum Haus ihrer Eltern hielt er an; sie blieb sitzen und blickte unschlüssig den langen Kiesweg hinauf zum Haus, dessen eines Fenster auf der Straßenseite im warmen Schein einer Petroleumlampe strahlte. Endlich faßte sie sich ein Herz und wollte sich von ihm verabschieden, aber als sie ihm in die Augen sah, wußte sie, daß er es heute abend tun würde, ganz gleich, was sie machte. Sie ließ den Türgriff wieder los, den sie bereits in der Hand gehabt hatte, senkte den Blick und flüsterte: "Fahren wir ..."
Er hatte recht gehabt, es war wirklich eine einsame Stelle. Die Masten standen hier weiter auseinander, und die Straße verlief fast am Ufer, nur durch ein paar vereinzelte Büsche davon getrennt. Jenseits der Straße war nur Wald; das nächste Haus stand weit am anderen Ende des Sees. Zwei erleuchtete Fenster spiegelten sich im schwarzen Wasser und wurden schließlich auch dunkel, erst das untere, eine Zeilang später das obere. Er holte tief Luft, die Axt, die er aus dem Schuppen geholt hatte, fest umklammert, und starrte den Schaltkasten an. Was sie an den Masten am unheimlichsten fand, war die totale Stille, die sie umgab; die Stille schien von ihnen auszugehen, genau wie die Lichtfetzen. Der Schaltkasten gab dagegen ein leises, brummendes Geräusch von sich, und das fand sie auf eine Art noch furchtbarer. Sie bildete sich ein, daß er jede ihrer Bewegungen verfolgte und aufzeichnete, bis ...
Er schien ihre Gedanken lesen zu können. "Es ist doch nur ein Ding", flüsterte er ohne rechte Überzeugung, "es kann nicht wissen, daß wir hier sind ..."
Aus der Art, wie er einfach nur dastand und den Kasten musterte, schloß sie, daß er ebenso nervös war wie sie selbst. Sie starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen.
"Ist ja gut", sagte er unsicher, mehr zu sich selbst. "Es ist gut, alles ist gut, alles wird gut ..." Er spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Er verzog das Gesicht, atmete scharf ein und holte aus.
"Es wird hell werden", murmelte er mehr als er rief und hieb die Axt mit aller Kraft in den Schaltkasten. Die Finsternis legte sich wie eine Decke um sie.