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MAX: Techno ist überall. Was bleibt noch zu tun?
Westbam: Letztens bekam ich ein handgeschriebenes Fax von einem Praktikanten aus dem Goethe-Institut in Tadschikistan. Die Techno-Szene sei dort noch nicht so entwickelt. Die machen mehr so Reiterspiele, wo es darum geht, einen toten Ziegenbalg zu einem bestimmten Baum zu bringen – und 2002 gibt es da dann auch Techno. Toll!
MAX 10/2002: 164
"Das Leben mit einem Stoma (künstlicher Darmausgang oder künstliche Harnableitung) ist nicht zwangsläufig schlecht, es ist in erster Linie 'anders'", weiß das BARMER-Magazin (3/2002: 32). Irritierend vertraut fühlt sich dagegen das neue Jahrtausend an, das im Jahr des Herrn 2002 endgültig bei uns angekommen ist. Wo bleiben die atombetriebenen Haushaltsroboter, die Fuller-Kuppeln über den kilometerhohen Wolkenkratzern, die Touristenschiffe zum Mars? Ich kann mich noch an den Zauber erinnern, der Anfang der Neunziger von den ersten Konservendosen-Verfallsdaten mit dem magischen Jahr 2000 ausging. Heute signalisiert dasselbe Ablaufdatum nur noch: Dringend wegschmeißen!
Nachdem es der Zeitgeist definitiv verpennt hatte, einen ordentlichen fin de siècle zu veranstalten, und auch Silvester 1999 allgemein eher unbefriedigend verlaufen war, kam der berühmte "elfte September" zur Markierung der Zeitenwende nicht ungelegen. Eigentlich sollte jetzt (wir erinnern uns) nichts mehr so sein, wie es einmal war. Pfeifendeckel! Der Routinegang des kurzzeitig epochalen Ereignisses durch den Verdauungsapparat der US-amerikanischen Kulturindustrie ist längst angetreten. Nur der Film fehlt vorläufig noch; vorstellen kann man ihn sich jetzt schon recht gut: der letzte Telefonanruf des braven Büroangestellten aus dem brennenden World Trade Center nach Hause ("Vergiß nie, daß ich dich liebe", Geigenmusik, Tränen), entschlossene Feuerwehrleute ("Ich weiß, du kannst es schaffen"), liebevoll inszenierte Explosionen (unverzichtbar in jedem Hollywoodfilm), wehende amerikanische Flagge irgendwo gegen Ende. Ansonsten: "Es gibt alles, vom Anti-Taliban-Videospiel über die technisch perfekte Miniatur-Ausgabe des Code 3 Helikopters bis hin zum Mineralwasser der Marke FDNY" (FR 9.7.2002: 23).
Dieser Satz aus der Frankfurter Rundschau ist schön, denn er enthält – von einem kleinen Lapsus abgesehen ("Code 3 Helikopter") – eine heutzutage nur noch selten anzutreffende Anhäufung des vom Aussterben bedrohten Bindestrichs. Jawohl, es gibt auch Neues in diesem Jahrtausend: den Euro etwa, geklonte Katzen und eine vollkommen enthemmte Rechtschreibung. Die im Zuge derer mittlerweile übliche anglisierte Behandlung zusammengesetzter Substantive empfinde ich als persönliche Beleidigung, was mein Leben nicht unbedingt erleichtert. Nachdem ich mich bereits gegen meinen Willen an den Bestellzettel meines Lieblings-Pizzaservice gewöhnen mußte (das "Schweine Schnitzel" schmeckt einfach zu lecker), versetzte mir die Firma Knorr vor kurzem den finalen orthographischen Tiefschlag mit der Einführung ihrer Produktreihe "HüttenSnack". Während die dort zu findenden "Emmentaler Makkaroni" als Grenzfall gerade noch durchgehen mögen, wird die Schreibung der "Käs Spätzle" hingegen von zukünftigen Historikern korrekt als Beginn vom Ende der abendländischen Kultur eingestuft werden. "Mit KNORR HüttenSnack Käs Spätzle bringen Sie ein alpenländisches Nudel Schmankerl schnell auf den Tisch".
Nudel Schmankerl! Eigentlich würde bereits die "Creative Kochidee" auf den HüttenSnack-Packungen einen Boykott rechtfertigen; entsprechende Überlegungen meinerseits wurden allerdings rasch von meinem Magen zunichte gemacht, der insbesondere die Vorzüge von "Schinken Hörnli" (uncreativ verfeinert mit Gouda, etwas Butter und einem Ei) durchaus zu schätzen weiß. Insgesamt scheint mir die Vermeidung von Produkten mit schwachsinnigem Aufdruck ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit, seit ich sogar auf meinem Lidl-Duschbad den Slogan "life of freshness" vorfinden mußte. Meine Empfindung moralischer Überlegenheit gegenüber Duschdas-Benutzern ("Volle Farben, rhythmische Musik und nicht zuletzt betörende Düfte verwandeln sinnliche Momente in Oasen der Energie") schwand in Bruchteilen einer Sekunde dahin.
Überhaupt sind wir uns in unserem täglichen Leben vieler Dinge zu sicher. So schreibt das Magazin "Computer & Co" (4/2000: 22) im Brustton der Überzeugung: "Als Wikingerkönig Harald Bluetooth (sic) mit Schwert und Keule das zersplitterte dänische Reich zu einem Königtum vereinte, ahnte er nicht, daß rund 1000 Jahre später Intel-Ingenieure eine Funktechnologie nach ihm benennen würden". Woher weiß "Computer & Co" das? Sicherlich hat niemand der Redakteure selbst mit dem Wikingerkönig gesprochen. Ich persönlich würde es nicht ausschließen wollen, daß Harald Blauzahn, nachdem er gerade mit dem Schwert das zersplitterte dänische Reich zu einem Königtum vereint hatte und sich anschickte, dasselbe mit der Keule noch einmal zu machen, für einen kurzen Augenblick dachte: "All diese Mühe und Plage für ein beschissenes kleines Land am Arsch der Welt, wo es ständig kalt ist und die Leute seltsam reden – kann es das wirklich gewesen sein? Wenn hingegen in rund 1000 Jahren Intel-Ingenieure eine Funktechnologie nach mir benennen würden – na, das wäre vielleicht was!"
Wir haben alle manchmal solche Vorahnungen, die sich durchaus als wahr erweisen mögen. Ich selbst ahnte beispielsweise im letzten Dezember, daß ich auch 2002 rauchen würde wie ein Schlot und Diana Thaler auch in diesem Jahr nicht ihre heimliche Liebe zu mir entdecken würde – und genau so ist es dann auch passiert! Womit wir wieder beim eigentlichen Thema wären, dem BARMER-Magazin. Hier durfte sich die Schauspielerin Jeannine Burch zum Thema "Gute Wünsche und Vorsätze für 2002" wie folgt äußern (1/2002: 12): "Mein guter Vorsatz ist, weiterhin nicht zu rauchen, auch im Jahr 2002, und dreimal pro Woche ins Fitneßstudio zu gehen – einmal mehr als jetzt". Hoffen wir von ganzem Herzen, daß diese ambitionierten Wünsche von Frau Burch wahr geworden sind. Am wichtigsten ist doch, daß wir alle gesund sind. In diesem Sinne!
An dem Abend, als sie mir meinen Führerschein nahmen, traf ich Gickler.
Bibliothek der Ersten Sätze, I
- A Mastiff! A MASTIFF!
- No! NOOOO! It must be a fucking BULLDOG!!!
- ... or a DOBERMAN! It's a DOBERMAN!!! AAARGGHH!
Was "it" nun wirklich war, muß vorerst im Dunkeln bleiben. Eines jedoch war sicher: Es kam "Es", dem namenlosen Bösen von Stephen King, schon sehr nahe, denn es handelte sich ebenfalls um einen seiner geisteskranken Einfälle: ein blutrünstiger Hund, der auf einem grotesken Parcours des Schreckens Kings neueste Romanmanuskripte mit sich herumtrug. Drei Männer hatte das Vieh schon böse verletzt, und drei weitere waren ihm noch auf den Fersen. Alle wußten: wenn King eine derartige Bestie schickte, dann mußte es sich um ein Kernstück, wenn nicht gar das Herzstück seines neuen Romans handeln. Tatsächlich schien die am Hundehals befestigte Fracht der Dogge größer, enormer als sonst.
- At least twenty pages! Or even more ... fuck it!
- T's a ten inch box! Ten Inches! We've never had that before!
Die Erregung der Männer war verständlich. Normalerweise rückte der "Irre aus dem Wald" nämlich nur sehr spärliches Material heraus. Ein, zwei Seiten pro Hund, selten mehr. Und dann waren die meisten Köter – wenn auch allesamt Kampfhunde – eher klein: mal ein American Staffordshire Terrier, dem ein Paket in die boxerähnliche Schnauze geklemmt war, mal ein gedrungener Dog Argentino, welchem, da abstammungstechnisch gesehen ein typischer Viehherdenbewacher, besonders schwer beizukommen war. Sehr gefürchtet auch der Bandog, eine Groß-Version des Pitbull, in die Rottweiler und Mastiffs eingekreuzt wurden; seine Bisse hinterließen tiefe, schwer heilende Wunden. Auch dem "zahmsten" Bandog konnten bisher kaum mehr als als fünf Manuskriptseiten entwendet werden.
- I gonna get him! This time I GONNA GET THAT FUCKING BEAST!
- I'll KILL IT! I'll SIMPLY KILL THAT SCUM!!!
Wut, Haß und unbändiges Jagdfieber kochte in den Männern, die mit der Sicherstellung der wertvollen Seiten beziehungsweise der Kaltstellung des Transmitter-Tieres betraut waren. Natürlich machten sie diesen selbstmörderischen Job nicht aus Spaß oder – wie viele sogenannte "Insider" behaupten – aus "Interesse an der Literatur". Nein, es waren vielmehr die horrend hohen Prämien, welche die Verlage auf Kings Ergüsse auslobten. Daß dabei eine Dollar-Schallmauer nach der nächsten durchbrochen wurde, darf da nicht weiter verwundern. Die einzelnen Publisher überboten sich in Sachen Preisgeld – und in der Suche nach fähigen "Catchern".
Einer der bekanntesten unter ihnen war Edwin "Ed" Esh gewesen. Ihm gelang es als bislang Einzigem, insgesamt mehr als zehn Hunde "zu machen" ("to make one of St. King's dogs" – einen King-Hund dingfest machen und ihm die Fracht abnehmen). Ihm hatte der Literaturbetrieb fast anderthalb King-Kapitel zu verdanken. Sein Name fand in jedem Inhaltsverzeichnis noch der mickrigsten Taschenbuchausgabe Erwähnung: Thanx to Ed Esh. Thank you, Ed!
Seinem Geheimnis wollte jeder der neuen "Catcher" auf die Spur kommen, doch kaum einem gelang es. "Ed" nahm sein Wissen schließlich mit ins Grab, denn er scheiterte an seinem elften Hund. Er wurde – wie so viele seiner Zunft – zu Tode gebissen, von einem Fila Brasileiro, wie man später erfuhr. King hatte sich und sein Werk bedroht gefühlt und zu einem ganz und gar tollwütigen Bastard gegriffen. Berufsrisiko.
- There he is! THERE HE IS OH MY GOD! IT'S E - NOR - MOUS!
- GEEE! GEEE! GET HIM! AAARGH!!!
Doch anstatt den riesenhaften Köter zu killen, erschlugen sich die Jäger in blinder Wut gegenseitig. Auch das darf nicht verwundern. Jeder mißgönnte dem anderen die Siegprämie, die in diesem konkreten Fall weiß Gott kein Pappenstiel war (20 Mio. $).
Der Hund entschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, drehte ein paar Runden und trottete dann, als ob er einem geheimen Befehl seines Meisters gehorchen würde, in Richtung Central Graveyard, dem bekanntesten Friedhof New Yorks. Dort verrichtete er seine Notdurft. Er pinkelte auf die von Tausenden von Blumen eingebettete letzte Ruhestätte von Ed Esh ...
Viele Meilen entfernt saß Stephen King an seinem Textcomputer und masturbierte ...
- In "First Blood, Part 1" hat er die Leute nur verletzt und niemanden getötet ... doch, einen, glaub ich ...
- Ist ja unglaublich! ... John Rambo, der Gandhi des Actionfilms! ...
Freitag: In dem Film "Joy – Strapsgenuß in Afrika" (SAT1) kommt kein einziger Mensch vor, der Strapse trägt. Wie lange wollen uns diese Programm-Macher noch für dumm verkaufen?
Montag: Habe entdeckt, daß sich die Vorspultaste am Videorecorder bei entsprechender Sitzhaltung wunderbar mit dem großen Zeh bedienen läßt. Evolution: eine wunderbare Sache.
Mittwoch: Dieter Krankbaum??
Samstag: Ob auf der Love Parade oder dem BTV-Rave: Wenn man jungen Menschen ein Mikrofon unter die Nase hält, folgt offenbar unweigerlich "Echt geil! Super gut!", und zwar unabhängig von der gestellten Frage. Das läßt Übles für das Fernsehprogramm in zehn Jahren erahnen.
Sonntag: Meine Begleitung, gewöhnt an die Fernsehbedingungen der frühen Neuzeit (drei Programme), wundert sich über die stoische Ruhe, mit der ich Home Shopping-Dauerwerbesendungen über mich ergehen lasse. Ob sie schon reif für Neun Live ist? Wir werden sehen.
Nein, Geschichte war die schwarze Front des Delta-Inducers, der leere Schrank und das ungemachte Bett. Geschichte war sein Widerwille gegen den vollkommenen Körper, in dem er erwachte, wenn der Strompegel sank, seine Wut auf den Radrikscha-Kuli und ihre Weigerung, durch den kontaminierten Regen zurückzuschauen.
Aber jedes Fragment offenbart die Rose aus einem anderen Winkel, fiel ihm ein; aber Delta hatte ihn mitgerissen, bevor er sich fragen konnte, was das bedeuten könnte.
William Gibson, Fragmente einer Hologramm-Rose
Kron Der Himmel ist noch nicht dunkel, aber die Straßenlaternen brennen schon; es ist, als ob es oben Tag wäre und unten Nacht, wie auf einem Bild von Magritte. Es ist Spätsommer. Kron sitzt am offenem Fenster und ordnet den Sommer in eine Pappschachtel, getrocknete Blumen, Tagebuchnotizen, Quittungen, Eintrittskarten, ein abgerissenes Plakat. Kron glaubt, daß ihm die Zeit verloren geht, die er nicht dokumentiert. Im Lauf der Jahre haben sich viele Schachteln angesammelt, drei Schachteln pro Jahr, ordentlich aufgestapelt und beschriftet. Kron ist nicht mehr jung, und er wird jedes Jahr drei Schachteln älter. Kron bewahrt seine eingeschachtelte Zeit im Speicher auf. Krons Speicher ist groß. In seinen Pappschachteln finden sich Reisesouvenirs, Erinnerungen an vergangene Liebschaften, Aufzeichnungen seiner Abenteuer. Kron hat nicht viele Reisen gemacht, nur wenige Liebschaften gehabt und kaum Abenteuer erlebt. Manchmal fragt sich Kron, wohin sein Leben verschwunden ist. Aber daß er es gelebt hat, beweisen die Pappschachteln.
Wenn sie einmal eingeräumt sind, sieht Kron die Schachteln nie wieder an.
Eva Eva hebt nichts auf. Sie führt auch kein Tagebuch. Sie hätte auch nichts aufzuschreiben, denn ihr Leben besteht im wesentlichen aus ihrem Mann, dem sie immer eine gute Frau war, sie hat ihn nie betrogen in all den Jahren ihrer Ehe, und gekocht hat sie auch gut. Eva hat ihrem Mann immer alle Wünsche von den Augen abgelesen und sich rührend um ihn gekümmert, wenn es ihm nicht gut ging, und es ging ihm oft nicht gut, er hatte es am Herzen. Als das Herz eines Tages vollkommen aufgehört hat zu schlagen, ist Eva gar nicht so richtig mitgekommen. Sie liest ihm immer noch vor und hält seine Hand, zumindest denkt Eva das.
Im Moment kommt Eva gerade mit einem Tablett zu ihrem Mann ins Wohnzimmer. Auf dem Tablett sind eine frische Kanne Tee, Milch, Zucker und eine Packung Kekse. Später werden sie zusammen fernsehen. Eva führt kein Tagebuch, denn sie braucht die Vergangenheit nicht, sie ist glücklich im Hier und Jetzt. Eva braucht die Vergangenheit nicht, denn die Vergangenheit ist jeden Tag um sie herum.
Schulte Schultes Theorie ist diese: Wenn das Universum das Ende seiner Ausdehnung erreicht hat, dreht sich die Zeit um, und alles läuft noch einmal genau so ab, wie es ursprünglich passiert ist, nur rückwärts. Die Welt steigt aus ihrer eigenen Asche wieder auf, Menschen erscheinen im Tode, gehen die Schritte ihres Lebens zurück und verschwinden in ihrer Geburt, Reiche fallen, bevor sie aufsteigen. Sobald das Universum zu einem kleinen Punkt unendlicher Dichte zusammengeschrumpft ist, kehrt sich die Zeit erneut um, das Universum expandiert von neuem, und alles ereignet sich wieder in der ursprünglichen Reihenfolge. Alles, was geschieht, ist also bereits geschehen und wiederholt sich lediglich in Ewigkeit, einmal vorwärts, einmal rückwärts.
Schulte folgert daraus zu Recht, daß es keine Freiheit gibt. Man kann nichts tun, was nicht bereits seit jeher getan worden wäre. Schulte gibt sich daher keine besondere Mühe mit nichts, er geht kaum außer Haus, bewegt sich ohnehin wenig. Seine Tage verbringt Schulte in der Hauptsache damit, auf das Ende zu warten. Manchmal legt Schulte allerdings Patiencen; wenn sie nicht aufzugehen drohen, erfindet er ad hoc neue Regeln, damit er doch noch gewinnen kann.
Viel Schlucken
Einstecken
Es fehlt ein wenig Öl!
Ich greife mir mit meiner linken Hand
an meinen Hals
Die Brocken gehen nicht mehr runter
"Die Tauben! Diese verfluchten Tauben! Sie scheißen aufs Dach!" Es ärgerte ihn, obgleich diese Wut völlig unnötig war, fand sie zumindest, da die Tauben das ja jeden Tag machten. Doch er regte sich darüber auf, weil er sich aufregen wollte, ohne daß sie merken sollte, warum er wütend war, denn sie war es, die ihn aufregte, sie.
Warum? Das konnte er sich nie erklären, es war einfach da, und es mußte raus, in diesem Moment und auch schon früher, und wahrscheinlich würde es sich auch in Zukunft wiederholen, daß er platzt, wenn sie auf dem Sofa liegt und die "Freundin" liest oder wenn sie die Zeitungen und Zeitschriften auf dem Küchentisch ordentlich stapelt, weil sie sonst nichts zu machen weiß, weil sie sich wieder gestritten haben, vielleicht über Taubendreck auf dem Dach.
Diese Stille, diese nervende, bedrückende und endlos wirkende Stille nach einem Streit, die wieder herrschte. Angefangen hatte es diesmal damit, daß sie einen Mikrowellenherd wollte, er nicht. Nicht wegen des Geldes, sondern weil er sowieso nichts Aufgewärmtes essen wollte und das Essen in einem solchen Gerät außerdem verstrahlt würde, oder so. Nun saß sie stumm auf dem Sessel und las Illustrierte, er betrachtete sie beim Lesen. Sie bewegte ihren Mund dabei. Das war ihm schon viel früher aufgefallen, er sagte es ihr aber nie, da er fand, daß es ihr unangenehm sein könnte, wenn er es erwähnen würde, und deshalb sagte er auch jetzt nichts. Er sah wieder aus dem Fenster, auf die Tauben, die auf dem nassen Pflaster saßen. "Blöde Viecher!" murmelte er. Sie hörte es nicht, sie war zu sehr damit beschäftigt, den Fortsetzungsroman zu lesen, was ihn immer besonders ärgerte, worauf er ihr regelmäßig vorhielt, sie würde nichts Anständiges lesen, und das ärgerte sie wiederum. "Ist es nicht meine Sache, was ich lese?"
Manchmal legte er ihr, wenn er früh zu Bett ging, etwas "Anständiges" auf den Nachttisch, zum Beispiel Max Frisch, den er sehr verehrte, und den er schon einmal zu Gesicht bekommen hatte, als er ihm während seines Aufenthaltes in Manhattan 1974 beim Spazieren begegnet war, wovon er gerne schwärmte, doch es kränkte ihn ein bißchen, daß er nicht in "Montauk" vorkam, wenigstens als irgendein Passant, womöglich mit Kleiderbeschreibung, da er sich noch gut an seine Kleidung erinnerte.
Sie las nie eines der Bücher, die er ihr auf den Nachttisch legte, nur einmal, auf sein Drängen hin, "Klein und Wagner" von Hermann Hesse, empfand es jedoch als "langweilig" und "lebensfremd".
Er öffnete das Fenster und warf nach den Tauben. Sie blätterte um, er hörte das Papier rascheln. Es störte ihn, auch ihr leises Seufzen, das folgte.
"Würdest du so freundlich sein und das Fenster schließen?" fragte sie, mutig, eine solche, in seinen Augen vielleicht unverschämte, Frage zu stellen. Er tat es und sagte nichts. Dann nahm er den Mantel und die Handschuhe von der Garderobe und meinte, daß er es nicht mehr aushielte in dieser gräßlichen Stille. Sie schaute ihn verwundert an, antwortete aber nicht, und er ging zur Tür hinaus ins Freie, auf den nassen Hof. Niemand war da. Er sah die Tauben auf dem Dach sitzen und ärgerte sich wieder, reagierte sich ab, indem er einen Stein wegkickte. Plötzlich tat ihm alles leid, ganz allein auf dem Hof, plötzlich bereute er den Streit, traute sich aber nicht, zu ihr zurückzugehen, in das Haus, in dem sie saß und die "Freundin" las, weil er wußte, daß sich nichts ändern würde, nie, daß es in ein paar Tagen genauso sein würde, wie es heute war.
Aber auch ihr mußte es leid getan haben, da sie schließlich das Fenster öffnete und ihn ruhig ansah. Sie hatte gewußt, daß er nicht fortgehen, sondern auf dem Hof stehen bleiben würde. Er bemerkte das Quietschen des Fensters und sah zu ihr hinauf. Der kalte Wind ließ seine Haare flattern.
"Kommst du bald wieder ins Haus?" fragte sie.
"Ja", antwortete er, "mir ist kalt".
Düsseldorf: Für einen Eklat hat der nordrhein-westfälische FDP-Landtagsabgeordnete Ralf Witzel nach dem Amoklauf eines Schülers in einer Erfurter Schule gesorgt. Wie am Montag bekannt wurde, hatte der bildungspolitische Sprecher der FDP-Fraktion auf einer Parteiveranstaltung am Wochenende mit Bezug auf die Ermordeten gesagt: "Das ist nicht die Art, wie wir uns das Projekt 18 vorstellen." Zu dem Zeitpunkt war man noch von 18 Toten ausgegangen. Die FDP strebt für die Bundestagswahl 18 Prozent der Stimmen an. Die Grünen forderten den Rücktritt des 30-jährigen Esseners. Witzel entschuldigte sich in einer Pressemitteilung für seine Äußerung. "Meine eigentliche Sprachlosigkeit und Trauer angesichts des schrecklichen Ereignisses haben ein gänzlich falsches Ventil gefunden."
Frankfurter Rundschau 30.04.2002: 2
Habe soeben eure neueste Ausgabe in der Mensa gelesen. Erstmal großes Lob an euch. Immer wieder findet ihr tolle Themen! Besonders gut hat mir diesmal euer Titelbild gefallen. Die Brüder Klitschko hatte ich im November 1999 in der Kölnarena gesehen. Toll, wie die boxen – und dann auch noch promovieren. Das Interview mit Gretchen Dutschke fand ich nicht so gut – wer ist das denn??? Und wen interessieren heute noch die 68er? Zu eurer Recruitingmesse werde ich wohl auch gehen. Bin im nächsten Semester mit meinem VWL Studium fertig. Das könnte für mich interessant sein.
Leserbrief von "Tatjana aus Bonn", Unicum 4/2000: 4