Dem Kosmonauten ging es nicht gut, das sah man. Was der strapaziöse Raumflug – der längste bisher von einem Menschen unternommene – begonnen hatte, vollendeten jetzt die unsanften Wellen des Indischen Ozeans, auf denen die Kapsel schaukelte. Er fühlte sich hundeelend. Als er die Kameras und Mikrofone bemerkte, die die Weltöffentlichkeit in Gestalt von einem Dutzend ausgewählter Korrespondenten und freien Reportern auf ihn gerichtet hielt, nahm er seine Kraft zusammen und krächzte in einem Ton, der spöttisch sein sollte: "Wo ist jetzt euer Gott? Ich war zehn Jahre oben, und ich habe ihn nicht gesehen!" Das klang tatsächlich so beeindruckend, wie er beabsichtigt hatte, aber es war – strenggenommen – nicht wahr.
Er machte sich keine Hoffnungen, daß dieser Tag aufregender werden könnte als alle anderen seit Antritt der Reise, über die er gewissenhaft Buch führte, die sich aber in nichts und wieder nichts voneinander unterschieden. Sechs Uhr: Aufstehen, elementare Reinigung (schwierig in der Schwerelosigkeit), Frühstück aus der Tube. Überprüfen der Instrumente, Rapport an die Bodenstation. Sieben bis zwölf Uhr: Durchführen der vorgesehenen chemischen, physikalischen und medizinischen Experimente, danach Mittagessen aus der Tube und Ruhepause bis eins, schließlich weitere Experimente und Routinewartung des Raumschiffes bis zum Abendbrot aus der Tube um neun. Freizeit bis zehn, schlafen, nächster Tag. Und so weiter.
Irgendwann am frühen Nachmittag, während er halbherzig mit einem besonders langweiligen Versuch beschäftigt war und sich schon wieder nach seiner Schlafkoje sehnte, wurde er plötzlich durch ein seltsames Geräusch irritiert, das er bisher an Bord noch nicht gehört hatte; es erinnerte entfernt an ein großes Orchester aus Blasinstrumenten. Er beschloß, sich das Ergebnis des Versuches für das Berichtsheft einfach auszudenken (was nicht das erste Mal gewesen wäre), und lief zu den Instrumenten, um dem Ursprung des Geräusches nachzuspüren. Der Außenmonitor, auf dem sich eigentlich die übliche öde, gelegentlich von dem einen oder anderen Stern unterbrochene Leere des Weltraumes hätte befinden sollen, zeigte stattdessen ein leuchtendes, ätherisches Blau mit einer Art unbestimmtem goldenen Schimmer in der Mitte. Er glaubte natürlich zuerst an eine Störung und kramte nach der Bedienungsanleitung der Überwachungsanlage, um sie zu beheben, als sich plötzlich ein kleiner, hektisch flügelschlagender Cherub in der Kapsel materialisierte. Er hüstelte kurz und verkündete dann mit seinem hohen Stimmchen: "Gott erwartet Sie bereits. Zimmer 205, direkt vor der Glastür am Ende des Ganges."
Während der Kosmonaut eigentlich noch damit beschäftigt war, relativ dumm in der Gegend herumzuglotzen, fuhr ein Blitz durch die Kapsel, und er fand sich in dem Gang wieder, an dessen Ende Gott sein Büro hatte.
Der Kosmonaut brauchte einen ziemlich langen Moment, um seine Eindrücke wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Interessanterweise wurden seine Gedanken in diesem Moment vor allem vom Groll auf seine ideologisch nicht unbelastete Schulung beherrscht; auf diese Situation hatte ihn der Lehrgang in sozialistischer Raumfahrt natürlich nicht vorbereitet. Er schluckte seinen Ärger herunter und begab sich zur Tür von Zimmer 205, die, gerade als er vorsichtig anklopfen wollte, von innen aufgerissen wurde. Gott stürmte heraus und drückte ihn, ohne daß er sich wehren konnte, überschwenglich an seine Brust, bevor er ihm mehrere sehr feuchte Küsse verabreichte und ihn in sein Büro schob.
"Komm herein, Brüderchen! Du mußt durstig sein!" Gott wühlte in seiner überfüllten Schreibtischschublade, bis er die Flasche gefunden hatte. Der Kosmonaut saß auf dem Sofa, vor sich ein randvolles Wasserglas mit russischem Wodka, auf dem Schreibtischsessel gegenüber Gott, der dem Getränk fröhlich zusprach, und wußte ums Verrecken nicht, was er sagen sollte. Überdies kam ihm irgendetwas an der Einrichtung des mittelgroßen Büros eigenartig vertraut vor.
"Tja, Brüderchen", unterbrach Gott seinen Gedankengang, "du hast uns wirklich Sorgen gemacht. Wir hatten bis zuletzt gehofft, du würdest abdrehen, bevor du uns findest, aber ..." Gott zuckte die Achseln. "Weißt du, wir haben den Kontakt mit euch in den letzten paar tausend Jahren absichtlich auf das Notwendigste reduziert, weil ... ach ... es ist alles ein bißchen peinlich, nicht? Nicht ganz einfach zu verdauen ... verdammt! Entschuldige, aber man läßt mir einfach keine Ruhe ..." Das Läuten des Telefons war in der Tat nicht zu überhören. "Was soll das heißen, Verfehlung des Plansolls leider unvermeidlich?" brüllte Gott in den Hörer. "Dann müßt ihr halt länger arbeiten! Der aktuelle Fünfjahresplan weist im Vergleich zu den früheren bereits ein sehr stark reduziertes Soll an Leiern und Schalmeien auf, also haltet euch bitte etwas ran! ... Kruzifix! Faule Bande!" schimpfte Gott noch in seinen Bart, als er bereits aufgelegt hatte.
Die Erkenntnis traf den armen Kosmonauten wie ein Schlag. Natürlich, das war ein Bild von Marx, Engels und Lenin über dem Schreibtisch ... ein Poster von Che Guevara und Castro, die blaue Marx-Engels-Gesamtausgabe aus Ostberlin im Regal, und sogar ein sehr kleines Foto von Trotzki. Teufel! Gott war Kommunist! "Nun, Brüderchen", fuhr Gott fort, "es ist mir natürlich klar, daß meine Existenz einen Verrat an der Sache der Arbeiter bedeutet, aber ich kann einfach nichts dagegen machen! Ich habe natürlich längst aufgehört, an mich zu glauben, aber das hilft nichts; es gibt mich trotzdem weiter. Die Materie ist eben doch stärker als der Geist! ... Nur, Brüderchen ... ich sehe schon, wie sich die Reaktion hämisch die Hände reibt ... um ihnen nicht in die Hände zu arbeiten – bitte sei so gut: Sag nichts weiter!"
So kam es, daß der tapfere Kosmonaut die Existenz Gottes wider besseres Wissen verleugnete. Und wenn er auch nach wie vor mit ganzem Herzen an das neue Jerusalem auf Erden glaubte, war eines doch beruhigend zu wissen: Sein Platz im Himmel war ihm auf jeden Fall sicher.