Sie wachte auf, und der Tag lag vor ihr wie ein poliertes Stück Spiegelglas: leuchtend, klar, wartete er auf sie. Sie warf die Decke zurück und beobachtete die kleinen Staubteilchen, wie sie in den Sonnenstrahlen tanzten. Sie mochte die Vorstellung, daß die ganze Welt eben erst mit ihr erwacht sei, daß die Sonne nur für sie schien, nur da war, um sie zu wärmen. Sie gähnte und streckte sich ein letztes Mal, bevor sie ihre Füße auf die warmen Holzdielen setzte. Die Treppenstufen knarrten wie zur Begrüßung, als sie hinunter in die Küche ging, um nach ihrem Morgenessen zu sehen.
Als sie den Schrank öffnen wollte, fiel ihr etwas ein, an das sie lange nicht mehr gedacht hatte; im nächsten Augenblick, gerade als sie darüber nachdenken wollte, wußte sie schon nicht mehr, was es gewesen war.
Während sie frühstückte, versuchte sie sich zu erinnern, wer denn eigentlich den Schrank immer wieder von neuem füllte.
Wie schön es ist, sehen zu können, dachte sie im Garten zwischen den vor Tau funkelnden Blumen. Sie wollte niemals blind sein. Über ihr schwebten flaumige Schönwetterwolken, wie gemalt in vollkommener Schwerelosigkeit, unbefleckt. Doch noch schöner war der eisige blaue Horizont; seine Unendlichkeit machte sie schwindelig. Es war gut, die Grashalme auf der Wiese zu spüren, die Unebenheiten des festen Bodens, die kleinen Insekten, die ihre Füße kitzelten.
Sie schloß die Augen: und öffnete sie wieder.
Sie wußte keinen Grund, nicht in der Wiese herumzutollen, wie sie es früher oft getan hatte. Schließlich lag sie erschöpft im Schatten eines Baumes, die Arme weit ausgestreckt. Sie blies ihr Haar aus dem Gesicht und mußte lachen. Ihr Körper war noch kräftig. Sie war nicht alt; aber die anderen waren jünger. Und ihre Rosen waren verblüht.
Als er am Gartentor klingelte, war sie gerade mit der Hecke beschäftigt; sie legte die Schere ins Gras und hüpfte auf den Kies. Als sie den langen Eingangsweg hinabging, beobachtete sie, wie er am Tor lehnte und, ohne daß er sich bewegte, sein dunkler Umriß gegen den hellen Sonnenschein langsam größer wurde. Dann erkannte sie, woher er kam.
– Wir haben Zeit, bis morgen, bis nächste Woche, nächsten Monat, soviel Zeit, wie wir brauchen.
– Ich glaube nicht, daß ich überhaupt möchte.
Sie spielte mit ihrer Tasse, drehte sie zwischen den Händen und fuhr den Henkel entlang; sie wußte nicht, was sie sonst hätte tun können.
– Wir haben Zeit, wiederholte er.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen; dann überlegte sie es sich anders und starrte stumm in den Tee.
– Jemand wird sich um den Garten kümmern.
Schon am nächsten Morgen ging sie mit ihm. Die Stadt glitzerte in der Ferne, verzerrt durch die warme Luft, die aus den Feldern und dem staubigen Asphalt der leeren Straße aufstieg. Sie ging nicht gerne, aber sie ging freiwillig, leichten Herzens. Ihre Bereitschaft, ihr Einverständnis, war die Voraussetzung des Glücks, so wie sie es erlebt hatte.