efc news 33 Juli 1999 |
"Ja, meine Herren, ich weiß, Sie sprechen von dem, was man annimmt; ich aber spreche von dem, was wirklich ist. Das, was Sie Liebe nennen, empfindet jeder Mann für jede schöne Frau, und am allermeisten für seine eigene. Doch dafür haben wir auch ein wahres Sprichwort: Eine fremde Frau ist ein Herzliebchen, die eigene Frau aber bitterer Wermut."
"Ach, was Sie da sagen, ist entsetzlich! Es gibt aber doch bei den Menschen ein Gefühl, das Liebe heißt und das nicht Monate oder Jahre, sondern das ganze Leben dauert?"
"Nein, das gibt es nicht! Nur in dummen Romanen wird geschrieben, daß sie einander das ganze Leben lang liebten, und nur Kinder können dergleichen glauben. Das ganze Leben lang einen Mann oder eine Frau lieben – das ist ebenso, als wenn man sagen würde, dass eine Kerze das ganze Leben lang brennen kann."
"Aber Sie sprechen beständig von sinnlicher Liebe! Erkennen Sie etwa keine Liebe an, die auf Gemeinsamkeit des Strebens nach dem höchsten Ziel, auf Seelenverwandtschaft beruht?"
"Seelenverwandtschaft! Einheit der Ideale! Aber in diesem Falle verstehe ich nicht, warum die Leute miteinander schlafen (verzeihen Sie den harten Ausdruck). Oder legen sich die Menschen vielleicht um der Einheit der Ideale willen zusammen ins Bett?"
Leo Tolstoi, Die Kreutzersonate
Scheiße. Die Schicht hat gerade angefangen, und mich kotzt schon wieder alles an. Diese blöde Aushilfe schafft es ja nicht einmal, das Besteck ordentlich in die Servietten zu packen. Wenn sie wenigstens gut aussehen würde ...
Und dann schon wieder Detlef. Jeden Abend hängt er an der Theke, wenn ich Dienst habe, und versucht, ein Date mit mir auszumachen. Wann begreift der endlich, daß ich nicht auf wasserstoffblond stehe? Vielleicht sollte ich ihm mal sagen, daß ich lieber hübsche Mädels mag, und ihm die Schichtzeiten von Klausimausi geben.
Aber was sehen meine entzündeten Augen? Wer hat denn diese Rote hierher geschleppt? Die kann ja wohl nicht alleine hier sein, oder doch?
"Was darfs denn sein, Unbekannte?" "Was kann er denn, der Keeper?"
"Deine Haut, so zart wie die Knospe, dein Haar so rot wie ein Sonnenaufgang, deine Augen so gierig wie die Dornen. Ich begierig darauf, sie zu pflücken, wenn die Sonne untergeht ..."
Na dann, gute Nacht!
ich bin mary. zweiunddreißig. einsneunundsechzig. es ist mittwoch. wie jeden mittwoch gehe ich hin. hin zu ihm. es ist unser abend. unser gemeinsamer abend. er weiß es nicht, egal. wie immer sitze ich direkt an der bar. er schweigt, schaut mich an und zieht seine augenbrauen gen himmel, als ob damit seine ersten lichten stellen verdeckt werden könnten. stundenlang könnte ich ihn mir so ansehen. wie eine momentaufnahme speichere ich dieses augenbrauen-gen-himmel-ziehen in tausendstel genauigkeit. ich deute es wie immer als: "lady, was soll's sein?" und ich antworte: "eine bloody mary". wie immer. seine hände, ein traum. sanft schlingen sie sich um den hals der flasche. nur einmal kurz tauschen. den kalten, feuchten gegen meinen heißen ... bloody mary ... wochenlang unterwegs nach dem rot. jetzt auf meinen lippen. mittwochabendlippen. und dann. endlich. puls 180, schweißperlen. er haucht "bloody mary". keiner sagt mary so wie er. keiner. den klang seiner stimme in mir, trinke ich. ich hasse diesen cocktail, aber keiner sagt mary so wie er. keiner.
Of all the bright cruel lies they tell you, the cruellest is the one called love.
George R.R. Martin, Meathouse Man
Mein Gott, ist der echt?
Sie wurde ärgerlich.
Solche Leute verderben einem den ganzen Spaß!
Jan war beeindruckt. Sie war groß, hübsch, gute Figur, mit Geschmack zurechtgemacht ... und in Anbetracht ihres Alters erstaunlich gut gebaut. Jan grinste. Das würde sie witzig finden. Hallo, sagte er und setzte sich neben sie.
(Sie fand es tatsächlich witzig. Sie hatte es zwar schon ein paar dutzend Mal zu hören bekommen, aber das wußten weder Jan noch sie.)
"Mir gefällt es hier nicht."
Ja, irgendwas war mit dem Laden nicht in Ordnung. Es waren auch nur ein paar Leute da, und die Unterhaltung verlief eher mühsam.
"Laß uns gehen, okay? Wir haben schließlich nicht alle Zeit der Welt ..."
Das fand sie wieder ganz lustig. Den Prosecco ließ sie trotzdem stehen.
Das Mädchen, das die Getränke brachte, war ein Trampel.
"Ach nein, das tut mir leid ..."
Mit kaum sichtbarem Erfolg wischte sie in der Pfütze herum, die nur kurz vor der Tischkante und vor Isabels Strümpfen Halt gemacht hatte.
"Ich bin ein bißchen ungeschickt ..." Sie versuchte es auf die lustige Tour zu verkaufen. "Schon letzte Woche hab ich ..."
Sie merkte selbst, daß sie etwas Falsches gesagt hatte, kicherte hilflos und wurde rot. Jan und Isabel warfen sich einen genervten Blick zu.
Auch hier würden sie nicht mehr lange bleiben.
Schlimm war vor allem, daß Jan es auch gemerkt hatte.
Eben war er noch so gut aufgelegt gewesen, aber jetzt wurde er sichtlich ein bißchen nervös, fummelte an seinem Ohrring herum. Sie lehnte sich zum Bartender hinüber, um nochmal nachzufragen, aber der nickte schon, bevor sie den Mund aufgemacht hatte. Der Bartender kannte sowas offenbar schon von früher. Das Personal ging nicht jede Nacht in die Tanks zurück; sie hatten einen längeren Zyklus, damit sie ihre Sachen managen konnten, und niemand störte sich dran, weil sie's normalerweise nicht heraushängen ließen. Ganz tolle Leute waren das, wie die Kundschaft selbst. Die Mädchen extra niedlich, die harmlosesten Fältchen diskret überschminkt, die Jungs glattrasiert, super angezogen und gut riechend.
Ganz anders als dieser Kerl hier.
Gott, war der eklig!
Und – o nein, ich glaub's nicht – er steuerte direkt auf sie zu!
"Ich hab keine Möglichkeit, ihn rauszuschmeißen, solange er nichts tut", sagte der Bartender ungefragt. Er zwinkerte. "Vorschrift, Mädchen, du weißt es. Aber wenn er auch nur Anstalten macht, dich anzufassen, fliegt er schneller raus, als er gucken kann. Okay?" Der Bartender grinste breit; sie wurde etwas ruhiger. Trotzdem gefiel es ihr gar nicht, daß der Typ sie tatsächlich anquatschte. Er war nicht nur unrasiert und – Gott, wie daneben – alt, sondern er stank auch noch. Der trank offensichtlich keine originellen Cocktails wie ihre Leute, sondern billigsten Fusel. Die Echten würde sie nie verstehen. Sie hatte ja schon Mühe mit denen, die freiwillig auf einem Monat waren oder sogar auf zwei.
Solche Leute waren so vulgär!
Der Typ setzte einen weinerlichen Gesichtsausdruck auf. Was sollte denn das für eine Anmache sein?
"Isabel, du mußt dich doch an mich erinnern! Sag doch nicht wieder, du kennst mich nicht ... Isabel, ich hab dich doch geliebt, wie kannst du denn das vergessen?"
Der Bartender tippte an seine Stirn, ohne daß es der Typ sehen konnte, und zwinkerte ihr wieder zu. Ja okay, er spinnt, dachte sie, aber woher um alles in der Welt kennt er meinen Namen? Es wurde ihr zuviel.
"Sie wissen genau, daß wir uns nicht kennen können", fauchte sie ihn an. "Ich bin heute morgen aus meinem Tank gekrochen, genau wie meine Freunde und die anderen Leute hier, und zwar genau aus dem Grund, damit wir nicht so einen Riesenmüll hinter uns herschleppen müssen, wie Sie es offenbar tun ... Das einzige, was ich je in meinem Leben gemacht habe, war ein ganz toller Brunch heute früh und ein bißchen Shopping heute nachmittag, und Sie wissen auch genau, daß ich nicht mehr allzuviel Zeit habe; in ein paar Stunden bin ich weg, aber ich habe meinen Spaß gehabt! Also dürfte ich mich vielleicht weiter mit meinen Freunden unterhalten, die ich vorhin kennengelernt habe? Ich habe nur noch ein paar Stunden, und die will ich so lustig wie möglich verbringen. Noch ein bißchen tanzen, und ganz bestimmt noch ein bißchen vögeln – wozu ist das Leben sonst da? – aber ganz bestimmt nicht mit Ihnen, alter Mann! Möchte wissen, wer das fertiggebracht hat ..."
"Isabel!" heulte er und packte sie am Oberarm.
Er flog tatsächlich schneller raus, als zumindest sie gucken konnte. Aber ihr saß ja auch der Schock in den Knochen. Sie rieb sich eine Zeitlang mechanisch die Stelle, wo der Typ sie angefaßt hatte, dann trank sie ihren Cocktail in einem Zug leer und knallte das Glas auf die Theke.
"Gehen wir!"
"Wurde eh Zeit", meinte Jan. "Zwei Clubs müssen wir heute mindestens noch machen!" Und alle lachten.
"Wir sehen uns", sagte der Bartender zum Abschied und zeigte ein letztes Mal seine Zähne. Nun, wenigstens von seiner Seite aus würde es wahrscheinlich stimmen.
Der Bruder eines stadtbekannten Professors, der mindestens ein grundlegendes Werk pro Jahr absondert, immer ein paar neue im Rohr hat und die Studenten fair behandelt – alt wird er wohl nicht werden, dieser Wissensmehrer und Wohltäter –, dieser Bruder jedenfalls begegnete mir öfters bei einem Freund. Er steht sich gut und ist immer akkurat im britischen College-Stil gekleidet. Dieses schwäbische Pfannkuchengesicht ist gut gelaunt, stets hungrig und durstig und bringt nie etwas mit, wenn er eingeladen ist. Er verzehrt irgendeine Erbschaft und schreibt angeblich seit Jahren eine Doktorarbeit über ein gleichgültiges Thema, die natürlich nie fertig wird.
Dieser bald fünfzigjährige Mensch wirkt sehr ausgeglichen. Sein Geheimnis ist es, daß er, gefragt oder ungefragt, ununterbrochen schwätzt und sich in seiner Geschwätzigkeit bewundernswert findet, über diese zu sich selber kommt. Seine Lieblingsvokabel ist Aperçu, die er Appersü ausspricht. Wieder und wieder entdeckt er Appersüs in den Ausführungen anderer, die sich nur räuspern. Andauernd will er Appersüs anbringen, während er doch nur Belanglosigkeiten kompliziert. Des isch nur als Appersü g'meint, schwäbelt er und präsentiert stolz eine weitere Sottise.
Dieser elegante Schnorrer und impotente Sprecher hat großen Erfolg bei Frauen, die von ihren erzieherischen Qualitäten überzeugt sind. Der College-Boy, der Doktorand und bei Bedarf auch der Alt-68er schwätzt sie voll, und sie lassen sich gerne beschwatzen von einem, der hilflos auf der Stelle tritt und doch meint, mit Siebenmeilenstiefeln neue Höhen der Konversation zu erklimmen. Viel zu spät aber merken sie, daß diesem begnadeten Schwaller nicht zu helfen ist, daß er mit Vorliebe zarte Frauen frißt und gnadenlos ausschlürft. Er ist intelligent genug, in ihnen auch nur eines seiner geliebten Appersüs zu sehen, die ihm in Scharen zufliegen.
da ist sie wieder. hübsch – nicht zu groß. es ist mittwoch. sie kommt jeden mittwoch hierher. hierher, zu mir? es ist unser abend. unser gemeinsamer abend. sie weiß es nicht, egal. ich möchte gar nicht weg von der bar, wenn sie da ist. ich sage nichts, schaue sie nur an und mache mir gedanken um sie. wie immer ziehe ich dabei meine stirn in falten. sie lächelt manchmal, wenn ich das tue. was sie wohl denkt ...
sie will immer eine bloody mary, wenn ich das tue. heute auch. ihre hände, so unscheinbar. zart, ja zärtlich greifen sie das glas. nur einmal kurz tauschen. den kopf des glases gegen meinen, begierigen. bloody mary ... so rot. dieses rot jetzt auf ihren lippen. mittwochabendlippen. und dann. endlich sage ich es ... bloody mary. ich werde sie so nennen. mary. kein name paßt besser zu ihr. bloody mary. keiner.
Manchmal löst sich beim Sex die Haut. Die Menschen verschmelzen, ohne Haut. Der Körper verliert seine Grenzen (...); und was einander berührt, ist etwas unaussprechlich Groteskes, etwas wie Gedärme, jenseits von Sprache oder begrifflicher Vorstellung, jenseits der Zeit; roh, Blut und Fett und Muskeln und Knochen, etwas, was durch keine Form oder formale Grenzen gebunden ist.
Andrea Dworkin, Geschlechtsverkehr
Ha!
Der Hase muß irgendwo hier sein. Es ist dunkel, trotzdem ist er schnell. Aber ich, ich bin der Fuchs, ich bin schlauer als er, ich bin schlau, ich werde ihn finden.
Wie war es? Es war nicht gut. Haltung zu bewahren, aufrecht zu bleiben unter den Vielen, wachsam zu bleiben. Sich nicht hinreißen zu lassen, auch wenn es rief. Immer auf der Hut: Vielleicht ist noch einer von ihnen übriggeblieben. Aber ach, nicht hinreißen sich zu lassen – nicht immer.
"Nein, wieso sollte es?"
Ob ihr Lachen falsch war, hätte er gerne gewußt. Am Ende würde es keinen Unterschied machen, aber er hätte es gerne gewußt. Wenn es einen gab, nahm sie ihn mit in die Tanks. "Doch für alles, was ihr dort zurücklaßt, werdet ihr auch wieder etwas mitnehmen."
Gut: jedenfalls machte es ihr nichts aus. Nicht ihr.
Den Hasen hatte er aus den Augen verloren. Er könnte es sein. Die Schlange war tot, er hatte sie sterben sehen. Aber der Hase könnte es sein.
Manchmal haßte er die heißen Nächte. Manchmal liebte er sie. Kleben von Schweiß auf Haut, Haut auf Haut, Schweiß auf Haut. Sie war natürlich wach. Doch er rührte sich nicht, sie sich nicht. Was sie dachte? Wahrscheinlich träumte sie schon den Tanks entgegen, ein weiteres Mal, ohne zu wissen, daß es nur ein weiteres Mal sein würde. Und er – was sollte er schon denken. Sie bedeutete ihm nichts. Morgen würde sie fort sein, in jeder Hinsicht. Schweiß auf Haut. Doch er traute sich nicht einmal zu atmen, ihren heißen Rücken an sich.
Vergißt du eigentlich gerne? Sag es mir, aber sag es mir mit deiner Haut, dein Mund wird lügen.
Die Häsin? Ich bin der Fuchs, ich bin doch schlau, ich muß es wissen.
Peinlichkeit bedeutete nichts.
"Entschuldigen Sie, aber ich denke nicht, daß Sie ... ach herrje ..."
Natürlich hat sie es gemerkt. Sie sind ja betrunken? Nicht mehr wichtig, der Ekel überlagert alles. Aber sie macht es anständig. Sie machen es eigentlich alle anständig. Aus irgendeinem Grund lassen sie sich ihren Ekel nicht gerne anmerken. Vielleicht haben wir ihnen das noch angedrillt, als letzten Gruß an das lange Jetzt. Aber oh, wie sie sich ekeln.
Ich bin doch schlau?
Peinlichkeit bedeutete nichts, am nächsten Morgen wäre sie aus der Welt.
Ihr Begleiter wurde unangenehm. Das wurden sie immer. Will er dich schützen, will er sein Revier markieren – ich werde dich nicht fragen, du wirst es mir nicht sagen, und wir werden damit leben können. Du bis morgen, ich ein Weilchen länger.
Peinlichkeit bedeutete nichts, aber daß sie nicht einmal diejenige war, für die er sie gehalten hatte, traf ihn.
Vergißt du gerne jede Nacht?
Nach seiner Zählung kam nur noch der Hase in Frage. Der Falke konnte nicht überlebt haben, er starb mit der Schlange in seinen Armen, gegenseitig fest verbissen. Der Sperber war schon alt. Alt und lächerlich. Er spürte das Ende und versuchte sich an das Leben der Vielen zu klammern. Kein Stolz. Keine Gefahr. Auch der Wolf war tot. In seinen letzten Tagen sah er ihn manchmal an seinem großen Fenster, ein riesiger Schatten im Spiegel, wenn er zu nahe an der Scheibe stand. Und es fröstelte ihn, und er lief rasch weiter. Der Wolf war in Würde gestorben, nicht wie die Vielen, deren ewiger Tod ihr ewiges Leben war.
Es machte ihr nichts aus; auch ihm machte es nichts aus, die Vielen in seine Hände zu lassen, eine nach der anderen. Manchmal übergab er sich ohne jeden Grund. Es mußte das Rauchen sein, das verdammte Rauchen.
Nein, ich weiß, ich bin betrunken, es tut mir leid, und ja, ich weiß, ich bin echt, es tut mir aufrichtig leid, bitte, Sie müssen mir glauben, meine Erinnerung ist meine Qual.
Ha!
Wirst du morgen noch da sein? Ich werde es, wie jeden gottverdammten Morgen, und oh, wie ich diese Morgen verflucht habe! Doch du wirst fort sein, ich könnte dir ins Gesicht spucken, daß du dich entrüsten würdest endlich mit Grund, doch du wirst fort sein. Und wenn ich dir wieder einmal begegne, vom Tank tropfst du noch, werde ich derjenige sein, an dem der Speichel klebt. Doch du bedeutest mir nichts.
Der Fuchs, die Häsin. So war es. Und: die Füchsin, der Hase. So war es.
Die Vielen: er haßte sie. Neu geboren jeden Morgen, frei von jeder Vergangenheit; das war das Privileg der Vielen, und dafür haßte er sie. Manchmal fragte er sich, was sie für sie empfand. Wenn sie sich mit ihnen abfinden konnte – hatte sie ihn nicht verraten? Hatte sie den Jäger nicht verraten? Das hatte niemand je getan.
Sie war in der Nähe, er würde sie töten, aber es hatte Zeit. Also blieb nichts zu tun als zu liegen, zu schwitzen, zu schlafen, zu warten. Die Vielen zu erdulden. Es wurde kalt, es regnete, es fiel Schnee, schmutziger Schnee auf die Häuser der Vielen. Wenn sie erst tot war, wenn der Sperber tot war und der Jäger fort, würde nur noch er selbst es wissen. Auch die Vielen würden es wissen, aber es wäre ohne Bedeutung für sie, und er würde der letzte sein. Die Vielen ahnten nichts von manchen Dingen, und das war es, weshalb sie lebten.
Wird den Hasen der Jäger haben? Wird es der Fuchs? Der Jäger ist böse geworden, denn er wurde verraten. Der Fuchs ist schlau, doch das hilft ihm nicht gegen den Zorn des Jägers. Der Hase aber ist schnell.
Er und sie. Welche war er? Am Ende würde er es wissen.
Irgendwie hatte er gewußt, daß sie dort sein würde. Schwimmend in der Menge, versteckt unter den Vielen, doch er hatte instinktiv die Zähne gebleckt, als er um die Ecke bog, bevor er sie noch gesehen hatte. Auch sie hatte es gespürt. So begegneten sie sich langsam, sie tasteten einander mit Blicken ab, sie tasteten einander mit Händen ab, sie sogen einander ein. Er würde sie töten, oder sie würde ihn töten. Etwas anderes würde der Jäger nicht dulden.
Der Fuchs schärft seine Krallen.
Der Hase spannt die Muskeln an.
Ich bin nicht schlau. Aber laufen, laufen kann ich.
Der Fuchs spannt die Muskeln an.
Der Hase schärft seine Krallen.
Und er sah ihre Augen. Und er sah: er wußte, wer sie war. Und sie wußte, wer er war. Und sie sah:
Schnee fiel auf die Häuser der Vielen. Sie lag bei ihm, sie gab ihm ihren Rücken für die Nacht. Er lag bei ihr, er gab ihr Wärme für den Morgen. Eine von beiden würde sterben, denn sie hatten einander erkannt. Aber jetzt war es warm für eine Nacht und friedlich, wo Fuchs und Hase beieinander liegen.