Kindersicherung für alle |
In der Werbung, in der Politik: Kinder ziehen immer. Erstaunlich – man sollte meinen, daß sich dieses vielleicht älteste Mittel aus der Trickkiste manipulativer Botschaften längst abgenutzt hat. Daß Konsumenten, denen strahlende Kindergesichter in der Werbung vorgeführt werden, den Zynismus erkennen, mit dem ausgerechnet die Unverstelltheit kindlicher Freude als strategisches Mittel zum Zweck mißbraucht wird. Daß Bürger, denen politische Maßnahmen mit dem Argument schmackhaft gemacht werden sollen, sie dienten dem "Schutz von Kindern und Jugendlichen", angesichts der durchschaubaren Absichten in lautes Gelächter verfallen. Das Gegenteil ist der Fall.
Mit Kindern läßt sich alles verkaufen: zum Beispiel der Einstieg in ein nach chinesischem Vorbild verstümmeltes Internet. Für die Bekämpfung der Kinderpornographie sind Internetsperren größtenteils wirkungslos, für die weitere Agenda ist das egal: Sperrung von Webseiten mit rechtsradikalen Inhalten, illegalem Glücksspiel, Raubkopien. Und so weiter. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt, man muß sich nur hin und wieder vor ein Plakat mit glücklichen Kindern stellen, um klarzumachen, worum es geht. Ursula von der Leyen macht es vor.
Vom Schutz der Kinder vor einer immer früheren Einbindung in den Wirtschaftsprozeß – als Zielgruppe des Marketings, als vom Vorschulalter an herangezüchtetes Humankapital – spricht kaum jemand. Der "Schutz von Kindern und Jugendlichen" findet sich stattdessen regelmäßig in drei anderen Kontexten.
Erstens: Sicherheit. Um beim Marsch in den Überwachungsstaat ganz sicher zu gehen, verläßt man sich nicht nur auf den Terrorismus als Begründung einzelner Maßnahmen, sondern greift auch auf Verbrechen gegen Kinder zurück. Und sobald neue Fälle vergewaltigter, vernachlässigter oder getöteter Kinder publik werden, wird sich jemand finden, der eine "Kultur des Hinsehens" fordert. Keine Sorge: Hingesehen, hingehört und mitgelesen wird in diesem Land schon ziemlich viel.
Zweitens: Gesundheit. Kinder und Jugendliche werden immer dann gebraucht, wenn es um Drogenprävention und ‑bekämpfung geht. Erwachsenen wird verboten, was Kinder nicht sollen. Exzessiv bemüht wurde das Kinderargument in der Diskussion um Rauchverbote: Jede Absturzkneipe soll "rauchfrei" sein, damit sie gefahrlos von Kindern betreten werden kann, jedes Privatauto, in dem Kinder mitfahren könnten, und auch die Medien müssen gesäubert werden, denn "Rauchen im Film ist ein Risikofaktor für den Beginn des Rauchens bei Kindern und Jugendlichen" (Sabine Bätzing).
Drittens: Moral. Nicht nur Homophobie tarnt sich gerne als Kinderschutz. "Es könnten Kinder zusehen" dient als Parole beim Kampf gegen allerlei, was man für unsittlich hält – auf die Spitze getrieben im US-Fernsehen. Immer und überall Vorbild für Jugendliche zu sein, verlangt man nicht nur von Sportlern. Vor roten Fußgängerampeln heißt es stehenbleiben, der Kinder wegen. Auch wenn keine Autos da sind. Auch wenn keine Kinder da sind.
Wenn Kinder als ubiquitär gelten, müssen in einer kindgerechten Welt für die Erwachsenen dieselben Verhaltensmaßstäbe gelten wie für die Kinder. "Leben und leben lassen" hat dann als Prinzip ausgedient; private Bereiche unterliegen öffentlicher Aufmerksamkeit. Die Reglementierung des Verhaltens von Erwachsenen, die Einschränkung ihrer Freiheiten und ihrer Privatsphäre, die in der Politik mit dem "Schutz von Kindern und Jugendlichen" begründet wird, bedeutet aber noch mehr: Die unselbständigen und unmündigen Schutzbedürftigen, um die es geht, sind nicht die Kinder. Es sind die Erwachsenen: die Kinder des Staates.
Gesundheitsfördernde Politik wird zum Schutz des Bürgers auch gegen seinen Willen, als Schutz vor sich selbst. Bei der Ernährung, bei allem, was mit Drogen zusammenhängt. Die "Gefahr paternalistischer Bevormundung" angesichts der staatlichen Reglementierung des Feierabends in der Kneipe sieht man selbst beim Bundesverfassungsgericht nur noch im Minderheitsvotum. Gesundheitsschutz geht vor. Und Erziehung.
Paternalismus zeigt sich auch im Umbau des freiheitlichen Rechtsstaates zum "fürsorgenden Präventivstaat", vor dem Gesine Schwan vergebens warnt. Die Bevorzugung von Sicherheit gegenüber der Privatsphäre entspricht elterlicher Wachsamkeit: Kein Säugling beschwert sich darüber, daß er per Babyphon abgehört wird. In England werden RFID-Chips in der Schulkleidung getestet, werden sämtliche Kinder in Datenbanken erfaßt, um Deviante und vom "sozialen Ausschluß" Bedrohte zu ermitteln. Zu ihrem Wohl registriert und überwacht: Das werden sie auch bleiben, wenn sie erwachsen sind.
Eine Gesellschaft, in der die Privatsphäre tendenziell aufgehoben ist, in der potentiell jede Handlung und sogar der Körper des Einzelnen in den Bereich obrigkeitlicher Verfügungsgewalt fällt, erinnert an das chinesische Modell. Sie erinnert aber auch an einen Kindergarten, wo man es nicht mit selbstbestimmten Individuen zu tun hat, sondern mit Schützlingen, die erzogen, umsorgt und bewacht werden müssen: gesund, sicher, sauber. Was ist eine Internetzensur nach chinesischem Muster anderes als eine Internet-Kindersicherung für alle? Parental Control. Der Weg nach China ist mit den besten Absichten gepflastert.
Ein gewisses Maß an Paternalismus gehört zum System in parlamentarischen Demokratien, wo man bei Politikern eine größere Reife für Sachentscheidungen voraussetzt als beim Wahlvolk. Der mündige Bürger droht mittlerweile vollends zur Fiktion zu werden. Was ist passiert? Neben dem demographischen Wandel, der schutzbedürftige Alte produziert und schutzbedürftige Kinder fordert, hilft zur Erklärung ein Blick auf die Wirtschaft.
Mündigkeit taugt hier zwar als Argument zum Abbau des Wohlfahrtsstaates, der den Staat zwingt, seine Fürsorge in Bereiche wie Sicherheit und Gesundheit umzulenken, wo sie wirtschaftlichen Interessen nicht in die Quere kommt (im Gegenteil). Ansonsten wird der Konsument so infantil wie möglich angesprochen. Genauso inhaltslos, aber emotional manipulativ, funktionieren Wahlkämpfe. Kindergesichter überall. Eine Demokratie aus mündigen Erwachsenen würde Sachargumente und Überzeugungsarbeit erfordern. Der moderne Staat setzt lieber auf Verbote, von Killerspielen bis Glühbirnen – ganz der strenge Vater.