Ludwigshafen: Die stehengebliebene Zukunft |
Ludwigshafen veränderte sich in den letzten Jahrzehnten wenig. Das ist nicht weiter verwunderlich: Schließlich war die Zukunft in LU schon da. Von Science Fiction-Utopien, Zeitreisen und sozialistischem Städtebau am Rhein
Seine Kindheit in Ludwigshafen am Rhein verbracht zu haben ist nicht das Schlechteste, was einem passieren kann. Sicher, es bleibt das eine oder andere Zipperlein von den zahlreichen Chemiewerken dieser Stadt zurück, aber dafür gibt es einen unschätzbaren Vorteil: Wenn du später zu den Stätten deiner Erinnerung zurückkehrst, wirst du alles mehr oder weniger unverändert antreffen. Über Jahrzehnte hat sich Ludwigshafen gegen den Zeitgeist gestemmt, der den Rest der Republik in einen durchglobalisierten Brei aus austauschbaren Gewerbegebieten und den immergleichen Filialen multinationaler Handelsketten verwandelt hat. Es ist, als ob sich spätestens in den Siebzigerjahren eine unsichtbare Zeitkapsel um Ludwigshafen gelegt hätte, die die Kugellampen in der Fußgängerzone, die sterile Aufgeräumtheit der knochensteingepflasterten Ebert-Parkanlage und die Denkmäler betonversessener Planierraupenarchitektur für die Ewigkeit bewahrt. Wenn du irgendwo vergilbte Uriah Heep-Plakate und Reklame für längst vergessene Produkte finden wirst, dann hier. Und nicht nur das: Die gesamte Stadt wirkt eigenartig vergilbt. Es ist der ausgebleichte Sepiaton abgelegter Erinnerungsfotos.
Das Zeitbiotop Ludwigshafen fasziniert deshalb, weil es nicht nur bloße Vergangenheit konserviert. Ludwigshafen erinnert an eine vergangene Zukunft, eine Vision industrieller Moderne, die von der Zeit liegengelassen wurde. Nähere dich Ludwigshafen mit dem Bummelzug über Land, und die Stadt wird aus den Feldern aufsteigen wie der Traum urbanen Lebens aus alten Science Fiction-Heften. Nähere dich Ludwigshafen mit dem Wagen über gigantische Ein-Pfeiler-Schrägseilbrücken, und die Innenstadt wird dir begegnen als in Beton gegossene Autofreundlichkeit vergangener Tage. Der monströse BASF-Komplex, größer als manche Siedlungen in der Umgebung: ein blinkendes Lichtermeer bei Nacht, in Stein und Stahl manifestierte Überkapazität im Tageslicht betriebswirtschaftlicher Rationalität. In ein, zwei Jahren soll auf weiteren Stellenabbau beim größten Arbeitgeber der Stadt "weitgehend" verzichtet werden. Die Beschäftigtenzahl in Ludwigshafen sinkt derzeit weitaus stärker als irgendwo sonst in der umliegenden Rhein-Neckar-Region; die Einwohnerzahl hatte ihr Maximum bereits Ende der Sechzigerjahre erreicht. In dieser Zeit, 1969, wurde der Ludwigshafener Hauptbahnhof als damals "modernster Bahnhof Europas" eingeweiht. Die Gleise verlaufen auf zwei Ebenen; durch die großzügig bemessenen Gleisunterführungen könnten Kleinlaster fahren. Die Wege zwischen zwei Bahnsteigen sind endlos. Heute findet sich kaum ein Mensch unter den elegant geschwungenen Überdachungen, durch die ein mit dem Duft chemischer Erzeugnisse geschwängerter Wind pfeift, und die niemals erneuerten schmutziggrauen Marmorkacheln haben Staub angesetzt. Fernverkehrszüge halten hier kaum mehr.
Ludwigshafen ist eine relativ geschichtslose Stadt, ein Halbstarker im Vergleich mit den beiden anderen Metropolen der Region, der angrenzenden Residenzstadt Mannheim und der alten Universitätsstadt Heidelberg mit ihrem Schloß und ihrer Puppenstubenromantik. Entstanden aus einem pfälzischen Vorposten Mannheims und in Konkurrenz zu Mannheim vorangetrieben, war Ludwigshafen praktisch von Beginn an Industriestadt. 1853 wurde Ludwigshafen zu einer selbständigen Gemeinde ernannt und bereits sechs Jahre später zur Stadt erhoben; die BASF siedelte sich 1865 an. Die vereinzelten Spuren dieses ersten Aufstiegs – Industrieromantik in Backstein, Arbeiterwohnblocks, die Gründerzeitvillen der Parkinsel – erzählen von einem noch älteren Traum industrieller Moderne, der im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs endgültig unterging. Der zweite Aufstieg der Nachkriegszeit, in der Ludwigshafen zu den am schnellsten wachsenden Großstädten gehörte, ebbte bereits vor der Ölkrise 1973 wieder ab; danach gab es zuwenig Geld und keine Bomber mehr, um das Stadtbild noch grundlegend zu verändern. Geblieben sind die Zweckbauten und Hochhäuser der Sechziger, leere Straßenbahnhaltestellen im Untergrund mit Schaukästen, die für nichts mehr werben, Stadtautobahn und nicht ausgelastete Hafenanlagen: eine Momentaufnahme vergangener Größe. Die Geschichtslosigkeit ist zu eingefrorener Geschichte geworden.
In seiner Kurzgeschichte "The Gernsback Continuum" erzählt Wiiliam Gibson von einem Fotografen, bei dem sich die Beschäftigung mit der futuristischen Architektur der Dreißiger- und Vierzigerjahre in den USA zu einer Psychose auswächst. Für ihn manifestiert sich das "Morgen, das nie war" aus größenwahnsinnigen städteplanerischen Visionen und Science Fiction-Utopien real in der Wüstenlandschaft: achtzigspurige Superhighways, bumerangförmige Riesenflugzeuge und Städte mit goldenen Türmen, in denen Menschen in weißen Togen wohnen müßten. "Ich stellte mir vor, wie sie die Plazas aus weißem Marmor bevölkerten, geordnet und aufmerksam, in den strahlenden Augen die Begeisterung für die lichtdurchfluteten Straßen und die Silberwagen. Es haftete dem die ungute Fruchtbarkeit von Hitlerjugendpropaganda an." Im Vergleich dazu nimmt sich die stehengebliebene Moderne Ludwigshafens deutlich bodenständiger aus – und irgendwie sozialistischer. Erinnert nicht das BASF-Hochhaus an deutsch-demokratische Repräsentationsbauten, so mancher Wohnblock an Marzahn? Trifft am Bahnhofsvorplatz nicht Alphaville auf den Alexanderplatz? Und wenn eine der verbliebenen gelblichen Straßenbahnen der Verkehrsbetriebe Ludwigshafen zwischen den Plattenbauten am Berliner Platz einfährt, fragt man sich, welches Berlin gemeint sein soll. Wenn die DDR den Krieg gewonnen hätte, sähe ganz Deutschland jetzt so aus. Auch das: eine Zukunft, die nie verwirklicht wurde.
Tatsächlich war Ludwigshafen von 1945 bis 2001 fest in sozialdemokratischer Hand – man beachte: die Stadt, die Helmut Kohl und Kurt Biedenkopf hervorgebracht hat –, bis schließlich die CDU-Frau Eva Lohse zur Oberbürgermeisterin gewählt wurde. Ist das ein spätes Zeichen des Wandels? Findet jetzt, im 21. Jahrhundert, der kulturelle Anschluß Ludwigshafens ans Reich statt? Immerhin macht sich bereits ein "Zukunftsforum 2020" Gedanken, wie die Stadt dereinst zu ihrer alten Dynamik zurückfinden könnte. Ludwigshafen soll nach Ernst Bloch – einem weiteren Sohn der Stadt – zu einer "Seestadt auf dem Land" werden, "fluktuierend, aufgelockert, am Meer einer unstatischen Zukunft". "Stadt im Fluß" nennt das das Stadtmarketing. Das gilt es richtig zu verstehen: Nicht in den Rhein, aber näher an den Rhein soll Ludwigshafen rücken. Mit Investoren für größere städtebauliche Veränderungen am Rheinufer wird verhandelt; geplant sind ein neues Wohnviertel auf einer nicht mehr genutzten Industriefläche und eine trendy "Shopping Mall", deren Hauptzweck allerdings zunächst darin bestehen dürfte, dem schwächelnden Einzelhandel der Innenstadt vollends den Garaus zu machen. Schon vor ein paar Jahren hat sich die Rhein-Neckar-Region ihre eigene S-Bahn gegönnt; ein angesichts der Taktzeiten und des Liniennetzes eher albernes Projekt, das aber Ludwigshafen den neuen S-Bahnhof Mitte im kahlen Zentrum der Stadt hinterlassen hat. Die designpreisgekrönten weiten Hallen verströmen den Geist einer Hypermoderne aus Glas und Stahl, und es ist tatsächlich die Moderne der Jetztzeit. Deutlicher als irgendwo sonst nimmt Ludwigshafen in diesem Bahnhof Tuchfühlung mit der Gegenwart auf. Symbolisch ist bemerkenswert, daß dieser Nahverkehrshaltepunkt den überdimensionierten Hauptbahnhof über kurz oder lang zur vollständigen Bedeutungslosigkeit verdammen wird; Fahrkartenausgabe und Informationsschalter sind bereits hierher verlagert. Vielleicht hat sich wirklich gerade ein Zeitfenster für Veränderungen geöffnet, aber vielleicht wird es sich auch schnell wieder schließen. Warten wir mit den Mitgliedern des Zukunftsforums auf das Jahr 2020; die Chancen stehen gut, daß Shopping Mall und Designbahnhof dann genauso vergessen, groß und leer daliegen wie der Hauptbahnhof heute. Und Ludwigshafen in seiner Zeitkapsel träumt weiter von einem Morgen, das nie kommt.
Autor: David Fischer-Kerli
Veröffentlichung: Erschienen als "Die Stadt in der Zeitkapsel" in: die tageszeitung 07.03.2006, S.13
Auch erschienen als "Die stehengebliebene Zukunft" in: Meier. Das Stadtmagazin (Mannheim), Mai 2006, S.18/19
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